18 Minuten

Niklis, Martina-Riccarda
7 min readOct 19, 2020

Dieser Artikel hat keinen Sinn und eigentlich brauchst du ihn nicht zu lesen. Denn es gibt hier nichts, was dir weiterhilft. Keine Erkenntnis, mit der du etwas anfangen kannst. Kein Aha-Erlebnis. Es gibt hier auch nicht die berühmte Türe, durch die du gehen kannst, die ich dir zeige oder die ich für dich öffne. Keine nichtlineare Antwort, keine Möglichkeit — leider…

In diesem Artikel zeige ich dir ein kleines staubiges Fenster in meine Vergangenheit. Ja verdammt, ich rede noch nicht mal vom berühmten, viel gelobten JETZT, dem schillernden Tierchen, das ich so selten zu sehen kriege, weil ich nie da bin, wo es gerade ist. Weil ich fast immer wo anders rumhänge, in der nebligen Zukunft, die wie ein Chamäleon jede Minute anders aussieht oder eben in der Vergangenheit. In der ich vor zwei Wochen dieses kleine staubige Fenster entdeckt habe. Um das es hier geht. In diesem Artikel, der keinen Sinn hat….

…den ich trotzdem schreibe, weil dieses kleine staubige Fenster mir einen Blick in eine Tiefe gewährte, von der ich keine Ahnung hatte.

Kurz die Hardfacts: Ich habe alte Tonaufnahmen auf meinem Handy ausgemistet. Sprachnachrichten und andere Dinge, die sich da angesammelt hatten, seit ich dieses Handy besitze. Fast alles löschte ich. Da war noch eine 18-minütige Aufnahme, die hörte ich mir zum Schluss an. Es ist eine Alltagsszene im Haus in Haidgau. Dem Haus, in dem ich 8 Jahre mit meinem Mann lebte. Axel und ich sitzen in dieser Szene am Esstisch, es ist Freitagabend und wir unterhalten uns über Alltägliches. Es ist November 2018. Ich weiß bis heute nicht, warum mein Handy das aufgenommen hat, ich glaube, keiner von uns beiden wusste in dem Moment, dass die Aufnahme läuft. Es ist insofern der perfekte Blick in 18 Minuten Alltag einer zehnjährigen Ehe. Wir wurden von einem hundertprozentig neutralen Empfänger für die Zeit von 18 Minuten mitgeschnitten: meinem Handy.

Kennst du das? Du siehst ein altes Foto von dir. Es kann 30 Jahre alt sein und doch: du weißt genau, wie es dir damals ging. In der Situation auf dem Foto. In diesem kleinen Jetzt, das die Linse festgehalten hat. Ob du gerade traurig warst, ob du eigentlich keine Lust hattest, fotografiert zu werden, ob du Angst hattest, blöd auszusehen, ob du den Bauch eingezogen hast oder was du über den gedacht hast, der das Foto gemacht hat. Du weißt es alles noch.

Die Tonaufnahme aus dem November 2018 ist jetzt fast 2 Jahre alt. Als ich sie vor kurzem zum ersten Mal anhörte, trat dieser Effekt ein: Ich sehe mich da sitzen, an meinem Platz am Tisch, an dem ich immer saß. Ich sehe Axel da sitzen, auf seinem Stuhl am Tisch, ums Eck von mir. In diesen 18 Minuten reden wir die ganze Zeit. Immer. Es gibt zwei kleine Gesprächspausen, eine dauert 7 Sekunden, die andere 5 Sekunden. Beide Pausen werden von mir beendet. Ich beende die Stille.

Über Gesprächspausen:

Eine Gesprächspause ist eine faszinierende Sache! Sie dauert länger als diese zeitlich kleine Lücke zwischen den Wörtern, die zu Sätzen verbunden werden. Und länger als die kleine Pause zwischen Sätzen und Gedanken, die aus mehreren Sätzen bestehen können. Das kannst du ganz leicht überprüfen, indem du dich beim Sprechen selbst beobachtest oder dir selbst laut etwas aus der Zeitung vorliest. Diese zeitlichen physiologischen Pausen macht jeder mehr oder weniger lange und meine Erfahrung ist, dass sie unauffällig, natürlich und in gewisser Weise ungefährlich sind. Gesprächspausen hingegen können das genaue Gegenteil sein: auffällig, unnatürlich und sehr gefährlich. Gesprächspausen können wahre Monster sein!

In einer Gesprächspause können plötzlich Gefühle auftauchen. Aus der Tiefe. Sie können hochploppen wie Korken im Loch eines zugefrorenen Sees. Zum Beispiel Angst. Zum Beispiel Traurigkeit. Oder Vermischungen mehrerer Gefühle, die zu großer Nervosität oder Panik führen können. Plötzlich steht man auf und holt die Teekanne, obwohl die Tassen noch halbvoll sind. Oder man tut das, was am Nächsten liegt und auch am Unauffälligsten ist. Man spricht einfach weiter. Einfach irgendwas weiterplappern. Der Korken taucht wieder ab, das Gefühl gleitet unter eine wahrnehmbare Schwelle.

Es ist einfach, das zu beobachten und damit zu experimentieren. Jeden Tag gibt es etliche Gelegenheiten dazu, mit der Frau in der Bäckerei, dem Arbeitskollegen, dem Freund. Mach die Pause etwas länger, halte Blickkontakt und beobachte, was aus der Tiefe hochploppt. Bei dir und beim anderen.

Im November 2018 wusste ich das noch nicht. Wenn du mich nach dem Gespräch mit Axel gefragt hättest: „Worüber habt ihr gesprochen? Was hast du gefühlt während des Gesprächs?“ hätte ich so was gesagt wie: „Wir haben uns gut unterhalten. Wir reden immer über irgendetwas, weil wir so viele Gemeinsamkeiten haben und eigentlich über fast alles reden können. Gefühlt? Nichts Besonderes. Ich weiß nicht.“

Fast zwei Jahre später sehe ich wie auf einer Bühne diese Szene unseres Ehe-Alltags noch einmal. Zufällig und unvorbereitet. Und plötzlich falle ich in diese Gesprächspausen wie in ein dunkles Loch und fühle, was ich damals auch fühlte, ohne es zu merken: Angst. Was ist, wenn keiner weiterspricht? Angst. Was ist, wenn uns der Gesprächsstoff ausgeht? Angst. Was ist, wenn einer plötzlich die Ebene der langweiligen Alltagsbanalitäten verlässt und etwas Echtes sagt? Etwas Verstörendes? Etwas Intimes? Angst. Was ist, wenn einer von uns etwas anderes möchte? Angst. Was ist, wenn diese Sicherheit plötzlich zerbricht? Weil einer geht. Was ist, wenn das hier stirbt? Diese kleine, faule Idylle nicht mehr ist?

Ich schreibe es nochmal: Ich habe es damals auch gefühlt. Das Gefühl der Angst hat dazu geführt, dass ich die Gesprächspausen beendet habe und wieder irgendeine Sache gesagt habe, über die wir dann redeten. Das Bild, das für mich am besten dazu passt, ist das Bild eines zugefrorenen Sees. Mit heißen Kufen gleiten wir über das Eis und es ist entscheidend, dass wir die ganze Zeit in gleichförmiger Bewegung bleiben. Wenn wir an einer Stelle stehen bleiben, fressen die heißen Kufen sich durch die Eisschicht und es wird gefährlich, denn wir könnten einbrechen und in diesem kalten, tiefen Wasser Dinge sehen, die wir nicht kennen und die unsere Existenz wie wir sie kennen, bedrohen. Dann hört das auf, was wir zu kennen glauben, das was wir beschreiben können, das Bild das wir von uns haben und auch das Bild, das wir anderen von uns vermitteln (Axel und Martina führen eine glückliche Beziehung…sie haben viele Gemeinsamkeiten und können über alles reden.).

Ich habe es damals auch gefühlt und ich habe es nicht gemerkt. Wirklich! Das ist nicht gelogen. Das Fatale ist, dass die ganze Scheiße trotzdem an die Oberfläche getrieben ist. Obwohl ich so sehr versucht habe, es unten zu halten und alles zu kontrollieren. Der ganze Mist lag plötzlich vor mir auf der Eisbahn. Es dauerte gar nicht mehr lange. Im Ernst: 7 Wochen später — im Januar 2019 — sitzen wir wieder an demselben Tisch. Ich auf meinem Stuhl, auf dem ich immer saß. Ich sehe Axel da sitzen, auf seinem Stuhl ums Eck von mir. Axel teilt mir mit, dass er sich von mir trennt. Das Eis unter mir bricht ein, ich versinke. Über das, was danach kam, schreibe ich jetzt nicht, denn das habe ich etliche Male getan.

Ich habe nach der Trennung noch sehr lange gehofft, dass ich irgendwann verstehe, was zwischen uns geschehen sein muss, damit es zur Trennung kam. Ich habe mir lange gewünscht, dass Axel mir irgendwann seine Sicht der Dinge erklärt. Wieder mal war es Clinton Callahan, der dieser Illusion auf seine unverwechselbar klare und nüchterne Art ein Ende machte, in dem er sagte: „Martina, wann wirst du endlich aufhören, diesen Bullshit zu erzählen. Du weißt doch ganz genau, was passiert ist.“ Es war auf einer Autofahrt zwischen Bad Wurzach und Ravensburg und Clinton saß hinten rechts. Ich fuhr und drehte mich kurz zu ihm um, denn ich dachte, ich hätte ihn vielleicht akustisch nicht verstanden. Aber das war es. Ich wusste, dass er Recht hat, ich verstand es und hakte es ab.

Als ich die Tonbandaufnahme fand, verstand ich noch etwas anderes: es war immer da gewesen. Ich hätte es schon immer sehen können. Wissen können. Die Gefühle waren schon lange da. Alles war immer die ganze Zeit da gewesen. Ich habe nur eine andere Entscheidung getroffen. Nämlich die, einfach weiter zu gleiten auf der glatten Eisschicht, nicht stehen zu bleiben und die Gesprächspausen nicht zu lang zu machen. Damit die heißen Kufen nicht das schöne Eis kaputt machen.

Mit jeder Entscheidung, die ich treffe, entsteht eine andere Welt. Und so bin ich heute genau da, wo ich sein wollte. Sehr exakt da, wo ich sein wollte. Hier kommt ein anderes Thema auf die Bühne: Verantwortung. Auch wenn ich damals im November 2018 nicht bewusst war, auch wenn ich es nicht sehen konnte, so sind die Folgen trotzdem eingetreten. Es ist niemand gekommen und hat gesagt: „Die Martina merkt gerade nichts, sie ist blind und taub. Wir müssen noch etwas warten, bis ihr der Salat um die Ohren fliegt.“ Nein. Es ist trotzdem alles passiert, die Wirkungen meiner gesetzten Ursachen sind alle eingetreten. Die Verantwortung gehört mir.

Ich habe etwas gelernt und verstanden. Vieles ist schon lange da, bevor ich es bewusst wahrnehme. Es spielt die ganze Zeit im Hintergrund wie ein Kaufhausradio, das ich nicht höre. Wie der Lärm von der Straße, den ich nicht mehr wahrnehme. Um es wahrzunehmen, zu hören und zu sehen, um zu fühlen, muss ich stehen bleiben und für einen Moment die Augen schließen. Ich muss warten, bis die dicke Eisschicht unter meinen heißen Kufen aufgetaut ist und ich nach unten einbreche. Ich muss ganz nach unten sinken an dieser selben Stelle und wahrnehmen, was da wahrzunehmen ist. Ich muss den Monstern ins Auge schauen, die mir da unten begegnen und die Angst spüren. Ich muss eine Weile da unten bleiben und eins werden mit dem, was ist. Dann kann Nähe entstehen, Verbindung, Intimität. Und dann kann ich aushalten, dass mir ein Wesen in die Augen sieht und dass ich einem Wesen in die Augen schaue. Auch wenn Pausen entstehen. Lange Pausen zwischen Worten. Und niemand weiß, ob nicht im nächsten Moment etwas ganz anderes passiert.

Ich bin seitdem ein bisschen vorsichtiger mit Sätzen wie: „Das habe ich nicht bemerkt.“ Denn es könnte sein, dass das nicht stimmt.

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Niklis, Martina-Riccarda

Warrioress with those bright principles: Clearity, creation, integrity, incouragement and oneness