Ein Raum namens Freundschaft

Niklis, Martina-Riccarda
6 min readJul 16, 2023

(Kurzer Artikel mit Experimenten)

Ich falle gleich mit der Tür ins Haus — dafür bin ich schließlich bekannt — und erkläre: So etwas wie Freunde gibt es nicht.

“Was? Spinnst du? Klar gibt’s Freunde. Ich habe ganz viele! Gute sogar.”

Ich ergänze meine erste Aussage um einen weiteren Satz, der heißt: So was wie gute Freunde gibt es gleich dreimal nicht.

Denn wenn es gute Freunde gäbe, würde es auch schlechte Freunde geben und was bitteschön ist denn ein schlechter Freund?

Das Wort “Freund” steht auf drei langen, dünnen, wackligen Holzbeinen, die da heißen: Annahme, Erwartung und Enttäuschung.

Die Klassiker beim Thema Annahmen zu Freunden sind:

Ich nehme an, dass man in einer Freundschaft gerne Zeit miteinander verbringt.

Ich nehme an, dass man sich in einer Freundschaft für einander interessiert.

Ich nehme an, dass Freunde einander vertrauen sollten.

Ich nehme an, dass Freunde miteinander über alles reden können.

Ich nehme an, dass Freunde sich gegenseitig schützen sollten.

Ich nehme an, dass man sich in einer Freundschaft nicht verrät.

Ich nehme an, dass man sich in einer Freundschaft nicht verletzt.

Ich nehme an, dass man sich in einer Freundschaft nicht gegenseitig tötet.

“Ja aber das wird man doch wohl erwarten dürfen, dass der beste Freund einen nicht verrät!”

Da sind wir bei den Erwartungen. Die liegen ganz nah bei den Annahmen. In der Hosentasche liegen Annahmen und Erwartungen direkt nebeneinander und die Hand kann sie kaum auseinander halten.

Aus der Annahme (Ich nehme an, dass man in einer Freundschaft gerne Zeit miteinander verbringt.) können zum Beispiel die Erwartungen kommen:

Ich erwarte von dir, dass du zu meinem Geburtstag erscheinst.

Ich erwarte von dir, dass wir mehrmals in der Woche telefonieren.

Und dass du mich auch mal anrufst, nicht immer nur ich dich!

Ich erwarte von dir, dass ich einen gewissen Stellenwert in deinem Leben habe.

Ich erwarte von dir, dass du mich zu dir einlädst, wenn es bei dir etwas zu feiern gibt.

Und dass ich dann neben dir sitze und nicht am ganz anderen Tischende.

Ich erwarte, dass ich für dich genau so wichtig bin, wie du für mich.

Ich erwarte, dass du nicht weiter erzählst, was ich dir anvertraue.

Und über allem dem erwarte ich, dass du das alles weißt, weil es ja selbstverständlich ist in einer Freundschaft und dass ich das nicht extra erwähnen muss.

Aber was ist denn dann, wenn die Person deine Erwartung nicht erfüllt? Wenn sie dich nicht zu ihrem Geburtstag einlädt oder wenn sie dich zwar einlädt, dein Tischkärtchen aber an den letzten, hintersten Tisch im Saal stellt, wo ihre ungeliebten Nachbarn sitzen? Wenn sie dich nie anruft oder sogar verletzt? Was, wenn sie dich verrät?

“Wenn meine Freundin mich verrät und so schwer enttäuscht, dann hat diese Person den Namen Freund nicht verdient. Dann ist das keine Freundschaft mehr und vielleicht auch nie gewesen.”

Und schon sind wir bei den Enttäuschungen. Im Bezug auf Freundschaft fallen dann Sätze wie:

Jetzt soll sie sich erst mal bei mir melden.

Ich bin schwer enttäuscht von ihr.

Wir waren so gute Freunde. Ich hätte nie gedacht, dass sie mir das antut.

Sie hat mein Vertrauen missbraucht.

Sie ist zu weit gegangen. Das kann ich ihr nicht verzeihen. Sie hat mich tief verletzt.

Dass sie mir in dieser schweren Zeit nicht zur Seite stand, kann ich ihr nie vergeben.

Es ist mir egal, wie es ihr geht. Sie hat mich damals auch hängen lassen. Sie soll bleiben, wo der Pfeffer wächst. Die Freundschaft ist nach so langer Zeit zerbrochen.

Ich kann ihr einfach nicht mehr vertrauen.

Also was ist denn der Mensch jetzt, wenn er nicht mehr dein Freund ist? Ist er ein Feind? Ein schlechter Freund? Ist er ein ehemaliger Freund? Ein Ex-Freund von dir? Wie nennst du ihn?

Wenn sie nur deine Freundin ist, weil sie dieselben Annahmen hat wie du, dann steht die Freundschaft doch auf wackligen Beinen. Dann fällt die Freundschaft sofort um, wenn eine Annahme nicht geteilt wird, eine Erwartung nicht erfüllt wird.

Wenn sie nur deine Freundin ist, weil sie dich noch nie verletzt hat und noch nicht enttäuscht hat, dann ist deine Freundschaft eine Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann, denn jeden Moment kann sie dich enttäuschen, vergessen und verraten. Absichtlich oder aus Versehen.

Wenn sie nur deine Freundin ist, weil du mit ihr auf Augenhöhe bist, dann ist es eine Frage der Zeit, bis sie auf irgend einem Gebiet besser, schöner oder beliebter ist als du und was dann?

Aber was ist denn dann Freundschaft?

Angenommen, Freundschaft wäre ein Raum. Und zwar einer, in dem beliebig viele Menschen sein könnten.

Und wenn du gerade der einzige Mensch in diesem Raum wärst, nun, was gibt es schöneres, als mit sich selbst in einem Raum der Freundschaft zu sein?

Und noch besser ist es natürlich, wenn jemand in diesen Raum herein kommt.

Und angenommen, das könnten Leute sein, die du kennst und auch welche, die du nicht kennst. Angenommen, die Türe zu diesem Raum wäre jederzeit nur angelehnt, so dass jeder den Raum jederzeit betreten könnte.

Wenn jemand den Raum beträte, wäre er quasi automatisch ein Freund, einfach nur weil er den Raum, der Freundschaft heißt, betreten hat.

Angenommen, jeder könnte den Raum, der Freundschaft heißt, auch jederzeit verlassen und was würde das bedeuten?

Nun, da es kein Gegenteil von einem Raum gibt, gäbe es dann auch kein Gegenteil von Freundschaft. Es würde einfach nur bedeuten, dass die Person jetzt nicht im Raum ist, der Freundschaft heißt und deshalb jetzt nichts mit ihr in diesem Raum geteilt werden kann.

Das ist alles und sie kann jederzeit wieder in den Raum kommen, solange er existiert.

Angenommen, so wäre es: es braucht nur eine Person einen Raum der Freundschaft deklarieren und schwupps! da wäre er schon.

Und weil dieser Raum so leicht aus dem Nichts entsteht, ist darin auch alles möglich.

Das muss ich nicht erklären, was das ist. Das Alles. Das wisst ihr.

Ach so, meine erste Behauptung, dass es so etwas wie Freunde nicht gibt? Die nehme ich zurück. Ich habe meine Meinung geändert.

Experimente zum Raum der Freundschaft:

Schreibe die Namen deiner zehn besten Freunde auf. Notiere auch, was du an ihnen liebst und schätzt. Rufe sie alle an. Nacheinander. Sage ihnen, was du an ihnen schätzt und liebst. Wahlweise kannst du ihnen auch einen Liebesbrief schreiben.

Schreibe drei Freunde auf, die du aus den Augen verloren hast, mit denen du keinen Kontakt mehr hast. Schreibe die Geschichte auf, warum ihr euch aus den Augen verloren habt. Schreibe die Geschichte noch einmal verantwortlich auf. Was hast du getan, gesagt, gedacht, damit ihr euch verloren habt. Welche Annahmen, Erwartungen und Enttäuschungen gab es bei dir?

Deklariere einen Raum der Freundschaft / Teil 1: Deklariere drei Tage lang und an jedem Tag an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten 10 Räume der Freundschaft, indem du deinen Klicker benutzt. Deklariere dass die Türe immer leicht geöffnet ist, so dass jede Person jederzeit kommen und gehen kann. Wo fängt der Raum an, wo hört er auf? Deklariere beispielsweise, das ganze Zugabteil sei dein Raum der Freundschaft. Laufe durch den Raum und begrüße deine Freunde oder lächle ihnen zu. Schließe den Raum mit deinem Klicker.

Deklariere einen Raum der Freundschaft / Teil 2: Setz’ dich in ein Café und deklariere mit deinem Klicker deinen Raum der Freundschaft. Das kann dein Tisch und der Nachbartisch sein, es kann auch das ganze Café sein. Du entscheidest. Jede Person, die deinen Raum der Freundschaft betritt, ist jetzt dein Freund und du bist ihrer. Schau’ dir deine Freunde an, schau wie sie kommen und gehen, so wie es immer in deinem Leben war. Freunde kommen und gehen. Schließe den Raum mit deinem Klicker.

Deklariere einen Raum der Freundschaft / Teil 3: Geh’ mit einer anderen Person in ein Café. Nun deklariert zusammen mit euren Klickern euren Raum der Freundschaft. Wo fängt er an und wo ist die Türe? Schaut euch eure Freunde an, die hinaus und hinein gehen. Schaut euch an. Ihr seid Freunde. Was fühlt ihr? Tauscht euch aus. Ladet eine weitere Person, die mit euch im Raum der Freundschaft ist, an euren Tisch ein. Trinkt Tee zusammen und unterhaltet euch. Lernt euren neuen Freund kennen und erzählt von eurem Experiment. Schließt den Raum mit eurem Klicker.

--

--

Niklis, Martina-Riccarda

Warrioress with those bright principles: Clearity, creation, integrity, incouragement and oneness