Es ist egal
Ich habe in meinem Leben bisher sechs Ausbildungen gemacht. Zuerst bin ich Krankenschwester geworden. Danach habe ich das Abitur gemacht und BWL studiert. Ich bin Diplom-Betriebswirtin. Später habe ich über 6 Jahre hinweg eine Neuroscanbalance-Ausbildung absolviert und war danach Feinmotorik-Trainerin. Ein paar Jahre danach habe ich eine 2-jährige Coaching Ausbildung in Konstanz gemacht. Ich bin jetzt auch Coach. Dann machte ich noch eine 2-jährige Ausbildung, um danach Ganzheitliche Krebsberaterin zu sein. Momentan bin ich auf dem Possibility Management-Trainerpfad. Ich bin eine PM-Trainerin. Dazu kommen einige weitere kleinere Fach-Fortbildungen. Mit diesen ganzen Skills, die ich im Laufe meines Lebens erworben habe, kann ich überall auf der ganzen Welt arbeiten. Überall. In jeder kleinen Gemeinde gibt es einen Pflegedienst, der mich sofort einstellen würde, denn es herrscht Pflegekräftemangel fast überall auf der Welt, soweit ich weiß.
Ich mache gerade Urlaub an der Ostsee. Ich wohne in einem kleinen Häuschen und wenn ich ein paar Minuten laufe, komme ich an einen der schönsten Strände, die es an der Ostsee gibt. Weißer Sand, Möwengeschrei, Wind, wenig Menschen und dieses Meer, an dem ich so gerne bin. Die Ostsee. Zauberhafter Ort. Magisch. Ich stehe morgens auf, weil eine Stimme in mir sagt: „Steh auf. Du bist immerhin an der Ostsee. Jetzt frühstückst du und dann gehst du an den Strand.“ Ich gehorche dieser Stimme, denn sie hat Recht. Ich bin ja immerhin an der Ostsee. Ich frühstücke, ziehe mich an und gehe an die Ostsee. Ich schaue auf die Uhr. Ich muss mindestens drei Stunden laufen, damit die Stimme zufrieden ist und ich kein schlechtes Gewissen habe. Wenn ich mit Freunden telefoniere, sage ich Sachen wie: „Es ist herrlich hier oben, das Meer, die Natur. Ich bin jeden Tag ein paar Stunden an der Ostsee.“ Keiner stellt das in Frage. Es ist selbstverständlich schön und es macht Spaß, am Meer entlang zu laufen. Jeder Mensch würde es genießen. Ich nicht. Ich absolviere ein Programm. Das Programm heißt „Urlaub an der Ostsee“. Das geht so, dass man am Strand spazieren geht, ein paar Stunden am Tag, dass man bewusst das Geschrei der Vögel hört, den Wind spürt und Sachen sagt wie: „Es ist herrlich an der Ostsee. Schade, dass mein Urlaub bald vorbei ist.“ Allerdings fühle ich den Spaß und die Freude nicht. Zu keiner Zeit. Obwohl ich alles richtig mache. Ich lese gute Bücher, esse Fisch, schlafe viel und laufe am Strand rum. Ich absolviere das ganze Programm. Täglich. Minütlich. Sekündlich.
Gestern haben wir im Trainerpath Germany Call darüber gesprochen, warum wir Trainer sind und was es bedeutet, Trainer zu sein. Der Raumhalter stellte mir die Frage: „Martina, hast du genug Spaß?“ Ich habe eine Weile versucht zu verstehen, was er möchte und habe versucht, die richtige Antwort auf diese Frage zu finden. Dann habe ich gesagt: „Nein. Ich habe keinen Spaß.“ Er gab mir noch einen Hinweis bezüglich meiner Stimme. Wenn ich spreche, schwingt immer eine gewisse Traurigkeit mit und ein Hang ins Jammern. Ich solle damit experimentieren und verschiedene Stimmen ausprobieren. Ich habe gesagt, ich wüsste was er meint und ich würde das versuchen. Zur gleichen Zeit wusste ich, dass meine Art zu sprechen nur ein Symptom ist. Der Versuch, die Stimme zu ändern wäre wie das dauernde Abwischen des Blutes aus einer Wunde, die immer weiter blutet. Ich kann andauernd das Blut abwaschen und wegwischen und die ständig blutende Wunde abdecken. Aber sie blutet trotzdem die ganze Zeit. Das Blut ist nur ein Symptom.
Den ganzen Abend habe ich darüber nachgedacht, warum ich keinen Spaß fühle. Schließlich habe einen Freund kontaktiert und ihn gebeten, mir Möglichkeiten zu geben für meine Stimme und dafür, was ich tun kann, um mehr Spaß zu haben. Wir sind so einen durchschnittlichen Tag meines Lebens durchgegangen. So einen, von denen es hunderte im Jahr gibt. Ein Tag, an dem ich arbeiten gehe. Ich habe vor einiger Zeit beobachtet, warum ich eigentlich morgens aufstehe. Was treibt mich aus dem Bett? Meistens ist es der Druck. Ich muss zur Arbeit, davor noch ein Morgenprogramm absolvieren und irgendwann kommt der Moment, wo die befehlende Stimme sagt: „Los jetzt. Aufstehen!“ Dann stehe ich auf. Manchmal wache ich auf und stehe direkt sofort auf, ohne zuerst nachzudenken. Dann stehe ich unbewusst sofort auf, quasi „aus Versehen“. In beiden Fällen stehe ich auf, obwohl ich eigentlich keine Lust dazu habe. Ich habe auch nicht keine Lust. Ich mache es halt, es scheint richtig zu sein. Danach absolviere ich mein Morgenprogramm, das immer gleich aussieht und überdeckt ist von dem Druck fertigzuwerden, weil ich ja gleich zur Arbeit fahren muss. Ich bin ein guter Arbeiter. Ich komme immer pünktlich, mache den Job ordentlich, handle verantwortlich, bin intelligent genug, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich bin äußerst zuverlässig, die Kollegen schätzen mich und ich komme auch mit leichtem Fieber zur Arbeit. So anstrengend ist der Job schließlich nicht. (Vermutlich hätte man so etwas Ähnliches auch über das Berufsleben meiner Mutter sagen können. Sie starb kurz nach ihrer Pensionierung mit 66 Jahren.) Zusätzlich zur Arbeit absolviere ich noch ein gewaltiges Freizeitprogramm. Ich mache Coachings, schreibe einen Newsletter, betreibe eine Homepage, habe ein eigenes Possibility-Team, das sich wöchentlich trifft. Ich habe Gitarrenunterricht, versuche jeden Tag einen Spaziergang oder Yoga zu machen und etwas Gesundes zu kochen. Das alles geht nur mit einer gewissen Disziplin und will geplant werden.
Kleines Beispiel: Hier an der Ostsee steht mir eine eigene Sauna zur Verfügung. Gestern war ich da zum ersten Mal. Ich musste genau durchrechnen, wann ich sie einschalte, denn sie heizt 45 Minuten vor und ich hatte vor und nach der Sauna noch Termine über Zoom. Ich gehe selten in die Sauna und war froh, dass da so eine Art Gebrauchsanweisung an der Wand hing, wie man es machen muss: Drei Saunagänge à 20 Minuten, dazwischen eine Ruhepause von 30 Minuten. Als ich meinen zweiten Saunagang antrat, merkte ich, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Es ist mega-heiß in so einer Sauna, das Blut schießt in den Kopf und er klopft und pocht wie wild. Ich hätte abbrechen, viel Wasser trinken und mich gut ausruhen sollen. Aber ich wollte nicht, dass der Ferienhaus-Besitzer das mitbekommt und dann denkt, seine Sauna würde mir nicht gefallen. Außerdem wollte ich nicht vom vorgeschriebenen Programm abweichen. Da stand, man soll dreimal rein. Also absolvierte ich drei Saunagänge, mein Schädel explodierte fast, ich hatte Angst zu kollabieren und es machte überhaupt keinen Spaß.
Vielleicht gehe ich heute wieder in die Sauna. Immerhin bin ich an der Ostsee in einer Ferienwohnung mit Sauna. Sauna ist toll. Wenn mich jemand fragt, wie mein Urlaub war, kann ich sagen: „Das war echt schön an der Ostsee. Ich war jeden Tag für mehrere Stunden draußen, habe Fisch gegessen und war abends in der Sauna.“ Jeder würde mir glauben, dass ich viel Spaß hatte oben an der Ostsee.
Mit dem Freund, den ich kontaktiert hatte, um mir Möglichkeiten geben zu lassen, habe ich schließlich so eine Art Maschine entdeckt. Ich versuche, diese Maschine zu beschreiben, was nicht einfach ist, weil sie immer läuft, auch während ich das hier schreibe. Sie macht mir die ganze Zeit Vorschläge, gibt Befehle oder erlaubt Belohnungen. Vorschläge können sein: „Mach noch eine Ausbildung. Das bringt dich weiter und du bekommst neue Möglichkeiten!“ Oder: „Mit deiner Stimme stimmt was nicht. Schau mal, ob du so etwas wie ein Stimmtraining machen kannst.“ Oder: „Zieh an die Ostsee. Es ist wunderschön an der Ostsee!“ Befehle klingen so: „Los jetzt, aufstehen!“ Oder: „Koch was mit Gemüse, du isst viel zu viel Zucker und Milchprodukte.“ Belohnungen klingen so: „Jetzt hast du ein sauberes Coaching gegeben, jetzt darfst du ein großes Eis essen.“ Oder: „Zwei Stunden an der Ostsee gelaufen und es war richtig kalt. Vier Folgen Vikings zur Belohnung.“
Die Maschine hält mich von morgens bis abends auf Trab und das schon seit Jahrzehnten.
Es ist etwas Seltsames geschehen, dadurch dass ich den Mechanismus der Maschine aufgedeckt habe: alles erscheint plötzlich egal zu sein. Es ist egal, ob ich an der Ostsee laufe, denn ich absolviere nur ein Programm und danach bin ich nicht glücklicher. Es ist genauso gut möglich, daheim zu bleiben und zu lesen. Auch das ist ein Programm. Es folgt eine Konsequenz, eine Art Bestrafung, resultierend aus einem schlechten Gewissen. Auch dann bin ich nicht glücklich. Ich kann meinen Job supergut machen, es macht mich nicht glücklich. Ich kann alle Konsequenzen umsetzen, um eine Trainerin zu sein, viele Prozesse halten, Worktalks geben und auf alle Labs fahren. Es ist Teil des Programms. In dem ich das jetzt beobachten und wahrnehmen kann, wird mir klar, dass es kein Falsch und Richtig mehr gibt. Ich kann mich anstrengen, alles perfekt machen, alle können mich super finden und ich kann das letzte Arschloch sein, Fehler machen, versagen und überall negativ auffallen: es ist egal, denn die Maschine läuft und ich absolviere nur verschiedene Programme. Und das Seltsame ist, dass da in diesem Raum eine kleine Lücke entstanden ist. Ein neuer Raum, der bisher nicht da war. Und der heißt: es gibt kein Richtig und Falsch mehr. Ich kann tun, was ich will. Ich kann aufhören, alles richtig machen zu wollen, aufhören mich so zu verhalten, dass andere mich mögen. Es ist egal, ob ich alle 10 Punkte erfülle, ob ich einen guten Job mache. Es ist auch egal, ob ich erklären kann, was ich tue und wie ich entscheide. Egal ob meine Argumente gut sind. Ich muss nicht mehr begründen. Ich kann sagen: „Ich ziehe an die Ostsee.“ Und: „Ich esse noch ein Eis. Einfach so, ohne Grund.“ Oder: „Ich esse Gemüse. Ich esse eine Woche lang gar nichts.“ Oder: „Ich arbeite ein Jahr lang nichts mehr und schlafe jeden Tag bis 10.00 Uhr.“ Ohne Grund. Nicht weil ich dann glücklicher bin. Einfach so. Ohne Grund.
In PM-Kreisen nennt man das ein Gremlin-Inmeshment und es bedeutet, dass mein Gremlin über 90 Prozent meines Lebens übernommen hat. Was ich also mache, ist so ähnlich wie ein Leben als Soldat, als Befehlsempfänger. Und weil es so massiv und so alt ist, ist es mir nicht mehr aufgefallen.
Ich erinnere mich an eine Situation, die ich als 4-Jährige erlebt habe. Ich saß in der Wiese und schnitt mit meinem Stock, der in meiner Wirklichkeit ein sehr scharfes Messer war, Blumen und Gräser klein. Ich kochte eine magische, bunte, gefährliche und zauberhafte Blumensuppe und ich war sehr glücklich. Ich weiß, wie es sich anfühlt, glücklich zu sein. Ich weiß nicht, warum das aufgehört hat. Die Fähigkeit, genau da zu sein und genau jetzt mit der winzigen Kleinigkeit — ein paar Blumen und einem Stöckchen — zu verschmelzen und mit dem ganzen Universum glücklich zu sein.
Die Maschine schlägt mir schon wieder neue Dinge vor: mach einen EHP, demeshe deinen Gremlin, mach Dinge die dir Spaß machen, fahre aufs Lab, gehe an die Ostsee. Gehe in die Sauna….
Ich habe beschlossen, vorerst nichts zu machen. Gar nichts, außer die Maschine zu beobachten, wie sie sich dreht und unaufhörlich arbeitet.