Goin’ sane
In der modernen Kultur war es noch vor 80 Jahre normal, körperlich und geistig behinderte Menschen, Homosexuelle oder Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen zu vergasen oder mit einer Giftinjektion zu töten. Das Nazi-Regime hat sie zu Tausenden von ihren Familien separiert, sie getötet, ihnen die Goldzähne heraus gebrochen und die Körper dann verbrannt. Die Asche schüttete man tonnenweise in nahe gelegene Gewässer wie die Donau, von wo aus sie sich auf der ganzen Erde verteilt hat.
Die Argumentation war, dass diese Menschen nicht lebensfähig, nicht lebenswert und eine Belastung für die Gesellschaft seien. Sie müssten weg, weil sie eine Gefahr darstellten; ihr Erbgut durfte auf gar keinen Fall weiter gegeben werden.
Ich habe einige Jahre mit psychisch Kranken gearbeitet. Ich habe in der Forensik für psychisch kranke Straftäter einen Mann getroffen, der nachts um 2 aufgestanden ist und seine Mutter, Vater und die kleine Schwester mit etlichen Messerstichen in den ganzen Körper getötet hat, während sie schliefen. Danach ging er in die Küche, briet sich ein paar Spiegeleier und ließ es sich schmecken.
Ich weiß das so genau, weil diese Taten genau untersucht werden. Sogar die Größe der Eier wird dabei erfasst. Alles wird genau dokumentiert, es gibt wochen- und monatelange Recherchen.
Polizei, Ärzte, Psychiater, Psychologen, Pflegepersonal und alles, was es an Therapeuten gibt, sprechen mit diesem Mann. Dann wird er als nicht schuldfähig verurteilt. Er kommt in eine forensische Psychiatrie. Er bekommt schwerste Psychopharmaka und alle Arten von Therapien.
Er lebt für den Rest seines Lebens in einer Umgebung, in der er für jede Zigarette eine Stunde lang mit einem Sozialarbeiter diskutieren muss, der seine Machtspiele mit ihm spielt. Er ist von anderen psychisch Kranken umgeben und lebt in einem Haus, für das er keinen Schlüssel hat und das von hohen Elektrozäunen umgeben ist. Die Fenster sind panzerverglast, Tische sind fest am Boden verschraubt und der Fernseher läuft den ganzen Tag.
Wenn er unauffällig und kooperativ ist, darf er nach einigen Jahren wieder in den nächst gelegenen Supermarkt gehen. Allerdings nur in der Begleitung von zwei Pflegekräften, die ihn nicht aus den Augen lassen und kontrollieren, was er kauft.
Außer Psychopharmaka und Körbeflechten hat die moderne Kultur keine Möglichkeit, mit psychisch Kranken umzugehen. Außer sie von den Normalen zu separieren, sie neugierig zu betrachten und zu dokumentieren, was sie tun, hat man nichts in der Hand.
Ich dachte eigentlich, dass ich mein Leben lang auf der Seite der Normalen war. Ich war die mit dem Schlüssel, die abends nach Hause ging und frei entscheiden konnte, was sie tat. Ich war in meiner Zeit in der Psychiatrie beliebt bei den Insassen. Sie mochten mich, weil ich immer versuchte, normal mit ihnen zu sprechen und sie nicht wie Verrückte zu behandeln. Ich dachte, wenn ich freundlich und fair wäre, wären sie auch freundlich und würden einsehen, dass ihr Leben besser verlaufen könnte, wenn sie sich normal verhalten würden.
Ich verließ die Psychiatrie, nach dem ich von Insassen angegriffen worden war. Ein riesiger Russe drängte mich in seinem Zimmer in die Ecke und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich kündigte am nächsten Tag.
Ich habe dann mit psychisch kranken alten Menschen gearbeitet. Die hatten ihr ganzes Leben in Einrichtungen verbracht und waren harmlos. Sie taten niemandem etwas. Sie machten komische Töne, sabberten, verschmierten ihren Kot auf den Wänden, lachten grundlos, wippten stundenlang auf dem Stuhl hin und her, wuschen sich zwanzigmal die Hände und redeten einen immer wieder mit den selben Wörtern an: “Machst du? Machst du? Machst du? Machst du?” Das ganze in einer unendlichen Abfolge, die nur endete, wenn sie aßen oder schliefen.
Auch da war ich die Normale, die Gesunde, die Vernünftige, die Kontrollierte, die Erzogene, die Begabte, die Ausgebildete, die Expertin. Die mit dem Schlüssel, die nach Schichtende nach Hause ging.
Es ist völlig undenkbar, dass ich verrückt bin. Dass ich grundlos lache oder etwas Unverständliches sage. Es kommt gar nicht in Frage, dass ich in der Öffentlichkeit die Kontrolle über meine Gesichtszüge verliere, dass ich in der Nase bohre, während andere zuschauen, dass ich laut schreie, wenn ich im Zug sitze. Ich erlaube mir keines Falls, dass Speichel an meinem Mundwinkel herunterläuft und ich starre auch keine Menschen an. Ich fasse andere nur an, wenn ich um Erlaubnis gefragt habe. Manchmal würde ich gerne laut rülpsen, aber ich tu so etwas nicht.
Ich beherrsche mich. Ich reiße mich zusammen. Ich versuche, nicht hässlich auszusehen. Ich schäme mich, wenn ich aus Versehen pupse, wenn andere im Raum sind und es hören könnten. Ich pupse, wenn ich alleine bin. Dann pupse ich laut. Es ist normal, zu pupsen.
Wenn keiner dabei ist.
Das ist so glasklar für mich, dass ich mir darüber NULL Gedanken gemacht habe. Überhaupt gar keinen einzigen. Werde gesund, heißt es, werde heil, empfiehlt man in der modernen Kultur.
Der Prozess, den wir im Possibility Lab im Rahmen des Possibility Management (https://possibilitymanagement.mystrikingly.com) gemacht haben, heißt “Werde verrückt (Goin’ sane)”. Ich brauchte ein paar Minuten, um Clinton Callahan richtig zu verstehen und fragte meine Sitznachbarin: “Wie heißt der Prozess?” “Goin’ sane”, antwortete sie. “Wie??”, fragte ich noch einmal.
Bei “Goin’ sane” gibst du deinen Schlüssel ab. Du sitzt für 7 Minuten auf einem Stuhl, der auf dem Boden verschraubt ist. Links und rechts neben dir sitzen 6 andere Verrückte. Du bist an dem Stuhl festgeschnallt, deine Hände sind an den Oberschenkeln fixiert.
Dir gegenüber sitzt eine große Anzahl von Experten. Psychiater und Ärzte. Sie betrachten und studieren dich. Sie sprechen nicht und lachen nicht. Sie beobachten dich.
Als die 7 Minuten begannen und ich verrückt wurde, schlüpfte ich zuerst in eine Rolle. Ich spielte die Verrückte. Ich hatte lange genug mit Verrückten zu tun gehabt, ich wusste, wie man sich bewegte, wie man sprach, wie man lachte und schrie. Ich wusste, wie man die Augen verdreht, wie man lallt, wie man den Nachbarn belästigt und wie man irre Lieder singt.
Als die 7 Minuten begannen und ich verrückt wurde, wurde ich dann wirklich verrückt. Es war, als würde ein kleiner schwarzer Schalter in meinem Kopf umgelegt. Ein Teil von mir, wurde lebendig und kam ins Leben. Ein Teil, der sich nicht darum kümmert, was die anderen denken. Dem es egal ist, wenn er hässlich aussieht. Oder alt. Oder wahnsinnig. Ein Teil, der nicht versucht, andere nicht zu erschrecken. Sie nicht abzustoßen. Ein Teil, dem es egal ist, wenn andere sich angeekelt wegdrehen. Ein Teil, vor dem andere Angst haben. Der stinkt und sabbert und übergriffig ist.
Im Laufe dieser 7 Minuten wurde dieser Teil lebendig, der ein echter Teil von mir war. Etwas Lebendiges. Etwas, das eingesperrt war in mir, weg geschlossen, beruhigt mit Medikamenten und in Schach gehalten mit hunderten von geflochtenen Körben. Das war auch ein Teil, der die Wahrheit sah und sie aussprach. Und der wusste, dass die Wahrheit so verrückt und wahnsinnig war, dass niemand sie glauben würde. Der wusste, dass er für verrückt erklärt werden würde, wenn er sie ausspräche. Der ahnte, dass er sich richtig unbeliebt machen würde, wenn er das sagte, was er sieht. Was da ist. Was passiert ist. Ich nahm wahr, wie viel Angst die Normalen vor den Verrückten haben. Wie gefährlich es für eine Gesellschaft ist, wenn die Verrückten sprechen.
Während der ganzen 7 Minuten wusste ich, dass das ein Prozess ist, dass ich mich danach verneigen würde, Applaus bekäme und mich wieder auf meinen Stuhl setzen würde. So war es dann auch. Ich setzte mich wieder hin.
Aber es war nicht die selbe Person, die sich wieder hinsetzte. Meine Sicht auf mich hatte sich verändert. Ein blinder Fleck saß jetzt im Rampenlicht. Etwas was lange versteckt und im Dunkel gelebt hatte, war aufgewacht. Ich wollte nicht mehr zurück in meine alte Normalität. Ich wollte nicht mehr die Vernünftige sein, die sich zurückhält und den Satz runterschluckt.
Ich glaubte der Stimme nicht mehr, die sagte: “Das kannst du nicht sagen / tun. Die anderen werden dich für verrückt halten. Sie werden Angst bekommen vor dir. Sag es lieber nicht. Bleib im Hintergrund. Gib mir den Schlüssel. Flechte den nächsten Korb.”
Am nächsten Tag entdeckte ich in einem “Brain split”- Prozess ein Implantat in meinem Gehirn. Dieses Implantat hatte verhindert, dass ich verrückt werde. Ich hatte es als kleines Kind bekommen. Wahrscheinlich hat das Implantat verhindert, dass ich einer Psychiatrie lande oder jemanden töte. Mit Sicherheit hat es aber auch verhindert, dass ich zu meiner Mutter gerannt bin und ihr gesagt habe: “Der Onkel Ewald hat mir seinen Finger in die Scheide gesteckt.”
Es gibt ein Sprichwort: Kinder und Verrückte sagen die Wahrheit.
In einer Gesellschaft, in der Kinder nicht verrückt sind, sind die Erwachsenen sicher. Sicher vor der Magie, dem Zauber, der Hellsichtigkeit, der Phantasie, der Fröhlichkeit, der Schonungslosigkeit und der tiefen Klugheit der Kinder. Sicher davor, vor der unendlichen Verletzbarkeit und Unsterblichkeit der kindlichen Seele in Tränen auszubrechen.
Ich habe das Implantat entfernt. Eine 9 Zentimeter lange und 2,5 Zentimenter breite Platte aus Edelstahl, die jetzt in meinem Labor auf dem Regal liegt.
Ich bin verrückt.
Ich habe jetzt die Fähigkeit, absichtlich und verantwortungsvoll verrückt zu werden. Meiner Lebendigkeit fehlte über die ganzen Jahrzehnte die verrückte Ressource der nichtlinearen Kreativität. Ich weiß nicht, wer ich jetzt wäre oder wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht so lange in meiner eigenen privaten inneren psychiatrischen Abteilung eingesperrt gewesen wäre.
Ich freue mich auf die nächsten Jahre der Entdeckung.
Ich habe den Schlüssel zurückgenommen und mich selbst herausgelassen.
Ich bin jetzt frei.