Im Raum mit einem Kaktus

Niklis, Martina-Riccarda
8 min readDec 31, 2020

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Ich lebe alleine. Damit meine ich, dass in der Wohnung, in der ich meistens schlafe, kein anderer Mensch lebt. Manchmal besuchen mich andere Menschen. Sie haben keinen Schlüssel zu meiner Wohnung. Es klingelt dann, ich mache die Türe auf und sie kommen herein. Aber nach einer Weile gehen diese Menschen wieder. Das ist so, weil sie in anderen Räumen zu Hause sind, in denen sie meistens schlafen. Es ist eine unausgesprochene Abmachung, dass diese anderen Menschen nach einer Weile wieder gehen. Darauf kann ich mich verlassen und es funktioniert. Noch nie hat ein Mensch, der unten geklingelt hat, einfach so versucht, länger bei mir zu bleiben. Möglich wäre es ja. Dass unten einer klingelt, ich ihn herein lasse und er einfach nicht mehr geht. Ich meine, nachdem wir zusammen Tee getrunken haben, zum Beispiel. Und nachdem wir uns eine Zeit lang unterhalten haben. Nachdem wir eine Partie Schach gespielt haben oder nachdem wir zusammen gekocht haben und das Gekochte dann zusammen gegessen haben. Möglich wäre es. Dass so ein Mensch dann am Ende des Tages in meinem Badezimmer seine Zähne putzt und einfach da bleibt. Einfach so, ohne besonderen Grund, meine ich. Möglich wäre es schon.

Solche Ereignisse werden vorher ausgemacht und lange abgesprochen. Zum Beispiel würden wir vorher darüber sprechen, dass wir von einem bestimmten Zeitpunkt an immer das gleiche Badezimmer benutzen. Und dass die Tassen, die in meinem Schrank stehen, ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach von uns beiden benutzt werden können. Und dass zum Beispiel diejenige Person ab einem abgesprochenen Zeitpunkt die Telefonnummer, die gewählt werden muss, damit der Telefonapparat in meinen Räumen klingelt, als seine eigene Nummer ausgibt. Das würde im Vorfeld lange überlegt, besprochen und geplant werden. Das wäre dann der Zeitpunkt, von dem an ich sagen würde, ich lebe mit dieser Person zusammen. Jeder in unserer Kultur weiß, was damit gemeint ist, wenn ich sage: Ich lebe alleine.

Es ist bei uns so: Wenn jemand zu einer anderen Person in die Wohnung geht und es ist zu diesem Zeitpunkt schon ausgemacht, dass der Jemand wieder gehen wird, sagt man nicht, dass man zusammen lebt. Dann sagt man bei uns eher: Diese Person besucht mich. Oder: Sie verbringt einige Tage bei mir. Denn es wurde zuvor abgesprochen, dass der Jemand wieder geht, dass er seine Zahnbürste dann wieder einpackt und alle Dinge, die in seinem Besitz sind. Wenn er dann wieder gegangen ist, hängt vielleicht noch eine Weile sein Körpergeruch in der Luft oder ein paar seiner Haare hängen noch am Kopfkissen. Eventuell hat er auch etwas vergessen, ein Hemd oder ein bestimmtes Nahrungsmittel. Es könnte sein, dass der Jemand zum Beispiel eine Nussallergie hat und deshalb einen bestimmten Brotaufstrich bevorzugt, den er mitgebracht hatte. Also einen, auf dem nicht steht: Kann Spuren von Nüssen enthalten. (Denn wenn jemand wirklich allergisch gegen Nüsse ist, passt er da sehr genau auf.) Diesen besonderen Brotaufstrich könnte er vergessen haben und der Aufstrich könnte, nachdem diese Person gegangen ist, noch auf dem Küchenschrank stehen, neben dem Glas mit den Haferflocken. Doch selbst, wenn er später telefonisch Bescheid sagen würde, dass er den Brotaufstrich jetzt nicht extra abholen wird und man ihn auch nicht per Post hinterherschicken soll, würde es nicht bedeuten, dass ich nicht alleine lebe. Es würde dann so sein, dass dieser Jemand einen Gegenstand in meinen Räumen stehen gelassen hätte, den er als sein Eigentum ansieht. Wenn er dann zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommt, könnte er diesen Gegenstand einfach in die Hand nehmen und ihn benutzen oder essen, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen. Das wäre normal und angemessen.

Bei uns ist es so, dass beide Zeitpunkte vorher klar sind. Der wann jemand kommt und der, wann er dann wieder geht. Der erste Zeitpunkt wird meistens klar ausgemacht: wann eine Person erscheint, meine ich. Man macht zum Beispiel aus, dass er um 15.00 Uhr kommt. Dann klingelt es so gegen 15.00 Uhr an der Tür. Ein paar Minuten Abweichung werden toleriert, darüber spricht man nicht. Wenn diejenige Person deutlich früher oder später kommt, spricht man darüber und ändert die Abmachung. Wann derjenige wieder geht, wird sehr gerne dem Zufall und den Umständen der Begegnung überlassen. Beispielsweise kann ich davon ausgehen, dass diese Person im Laufe des Abends wieder geht, wenn ausgemacht worden ist, dass wir zusammen Tee trinken und einen Spaziergang machen möchten. Es wäre nicht üblich, dass diese Person sich dann vierzehn Tage in meinen Räumen aufhält. Niemand macht das. Es ist auch nicht üblich, dass genau vorher abgesprochen wird, wann diese Person wieder geht. Man sagt zum Beispiel nicht so gerne: Ich komme um 15.00 Uhr und bleibe bis 17.15 Uhr. Oder: Bitte komme um 15.00 Uhr und gehe um 17.15 Uhr wieder. Es ist bei uns unhöflich und der Besucher könnte denken, dass man es kaum abwarten kann, dass er die Wohnung wieder verlässt. Wenn ich so darüber nachdenke, hätte es für mich aber etwas Beruhigendes, es so zu machen. Schließlich ist es ja manchmal so, dass ich denke: Jetzt könnte er eigentlich wieder gehen. Hoffentlich verabschiedet er sich bald. Oder ich denke: Er geht schon! Wie schade! Es ist doch gerade noch so schön in seiner Gegenwart. Auch möglich ist, dass die Person denkt: Ich sollte jetzt gehen, ich bin schon 3 Stunden hier. Aber ich möchte noch nicht gehen. Oder: Wie kann ich gehen, ohne unhöflich zu erscheinen, ich kam ja erst vor 20 Minuten?

Wenn ich es so recht bedenke, ist es eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, diese Besucherei anderer Menschen in ihren Räumen. Und es gibt in diesem Zusammenhang noch viel mehr Fallstricke, man könnte ein ganzes Buch darüber schreiben.

Ich lebe alleine, bedeutet aber nicht, dass sich kein anderes Wesen in meiner Wohnung befindet. Seit über einem Jahr gibt es ein Lebewesen in den Räumen, in denen ich meistens schlafe. Es handelt sich um einen kleinen Kaktus. Ich entdeckte ihn an einem Altenheim. Da hat mein Gitarrenlehrer einen Raum gemietet, in dem wir uns einmal in der Woche treffen, um Gitarre zu spielen. Vor der Türe dieses Altenheims (ein Haus, in dem ältere Menschen meistens schlafen) standen einige Kakteen. Sie waren in Blumentöpfe gesetzt, in einen sandigen Boden, so wie Kakteen es gerne mögen. Vermutet man. Vor den Töpfen lag ein Pappschild, darauf stand: Bitte mitnehmen. Ich suchte mir einen kleinen Kaktus aus, stellte ihn in mein Auto und brachte ihn in meine Räume. Er steht seitdem auf meinem Schrank. Ein Kaktus braucht nicht viel. Man kann ihn meistens vergessen. Selten muss man ihn ein wenig gießen. Sonnenlicht mag er angeblich auch. Das wars schon.

Vor ungefähr zwei Wochen gab ein Freund mir die Möglichkeit, einen Artikel über die Beziehung zu Zimmerpflanzen zu schreiben und ich nahm die Herausforderung an. Ohne Grund. Deshalb begann ich vor einigen Tagen, mich jeden Morgen für 20 Minuten hinzusetzen und diesen Kaktus vor mich zu stellen. Mehr habe ich nicht getan. Nur 20 Minuten diesen Kaktus angeschaut. Jemand der sagt: Über einen Kaktus gibt es nicht viel zu sagen, der sieht nach einem Jahr immer noch genauso aus, lügt wahrscheinlich nicht. Man kann es so sehen. Ich habe diesen Kaktus ein ganzes Jahr gar nicht richtig angeschaut und hätte ihn auch nicht aus anderen Kakteen herausfinden können. Es ist ein Kugelkaktus, er wächst extrem langsam und kann mehrere hundert Jahre alt werden. So alt wie kein Mensch. Er hat 14 Rillen, die wie die Längengrade der Erdkugel verlaufen. Den Südpol sieht man nicht, denn da ist er eingepflanzt. Der Nordpol ist eine faszinierende Stelle. Da kommen genau aus der Mitte kleine weiße Punkte, an denen die Stacheln stecken. Und dort ist tatsächlich Veränderung sichtbar, meine ich. Seit ich den Kaktus betrachte, hat sich einer der kleinen weißen Punkte bestimmt schon den Bruchteil eines Millimeters weiter heraus geschoben aus dem Nordpol. Auf einem der Längengrade entlang. Der Kaktus scheint genau zu wissen, wie die weißen Punkte auf den Kämmen der Rillen verteilt werden müssen, so dass es ein gleichmäßiges Muster ergibt. Aus jedem dieser weißen Punkte oder Flecken wachsen viele Stacheln in alle Richtungen. Es sind so viele, dass es unmöglich ist, die weißen Flecken direkt zu berühren, denn es sind in alle Richtungen Stacheln da. Eigentlich kann man mit einem Finger keine einzige Stelle der grünen Kaktusoberfläche berühren, denn die Stacheln sind so angebracht, dass alle Bereiche geschützt sind. Die Stacheln sind sehr hart und so spitz, dass die kleinste Berührung sehr unangenehm ist. Die Stacheln durchdringen beim kleinsten Druck sofort die Haut. Sie haben unterschiedliche Farben. Das sieht man nicht auf den ersten Blick. Dazu muss man die Pflanze gegen das Licht halten. Es gibt zum Beispiel cremefarbene, gelbe, weiße, braune und sogar rote Stacheln. Rot wie das Fell eines jungen Fuchses. Wirklich! Ich vermute, dass die weißen Flecken weich behaart sind, aber um das heraus zu finden, müsste ich den Kaktus zerschneiden. Das möchte ich nicht tun, wo er doch zu jeder Zeit genau das macht, wozu er da ist.

Es ist sonderbar. Der Kaktus hat nichts verändert an seinen Tätigkeiten. Er tut immer das, was er von Anfang an gemacht hat. In seinem langsamen Tempo. Er hat auch nicht den Kontakt zu mir gesucht oder mich mit stacheligem Stimmchen leise angesprochen. Hat er nicht. Er stand auch nicht plötzlich vor meinem Bett. Er schickte keine Sprachnachricht, er wuchs nicht plötzlich sehr schnell, damit ich aufmerksam auf ihn werde. Ich glaube, Sie wissen, was ich meine. Aber ich habe mein Verhalten geändert. Ich habe ihn mir genauer angesehen. Jeden Morgen 20 Minuten. Manchmal denke ich tagsüber plötzlich an ihn. Ich weiß, wo er steht, wie er aussieht und was er gerade macht. Sein Bild kommt mir in den Kopf und manchmal empfinde ich Freude. Ja. Wenn ich heute Abend heim komme, wird er da sein. Ohne Erwartungen, wortlos, still und er wird das tun, wozu er da ist. Manchmal habe ich ein kleines bisschen Angst. Ich fühle eine Verantwortung für ihn. Er wird doch mehrere hundert Jahre alt. Wer kümmert sich um ihn, wenn ich nicht mehr kann? Vielleicht standen die Kakteen am Altenheim, weil dort ein Mensch war, der kurz vor seinem Tod zu einem anderen Menschen gesagt hat: Wenn ich gestorben bin, kümmere dich bitte um meine Kakteen. Stell sie an die Straße, damit sie ein neues gutes Zuhause bekommen bei Menschen, die sich um sie kümmern…

Ich glaube, am meisten beeindruckt mich die Selbstverständlichkeit dieses Kaktus. Er jammert nicht rum und sagt: „Oh nein, schon wieder ein Jahr vorbei und ich habe mein Stachelpensum nicht geschafft. Ich müsste viel schneller sein.“ Oder: „Mist, der weiße Punkt ist nicht exakt an der richtigen Stelle. Er müsste eine Rille weiter links hin.“ Er ist einfach da, tagaus, tagein und wächst in seinem langsamen Tempo immer weiter. Ohne Klagen, ohne Annahmen, ohne Erwartungen. Er denkt wahrscheinlich auch nicht darüber nach, ob das, was er tut, sinnvoll ist. Ich meine, er steht in einer 2-Zimmerwohnung in Süddeutschland. Hier gibt es keine Fressfeinde, keine halbverdursteten Vögel, die an ihm herum picken wollen (oder was sonst noch einem Kaktus an den Kragen will). Hier droht keine Gefahr, denke ich. Trotzdem produziert er weiterhin Stacheln, schützt seine ganze Oberfläche, tut das die ganze Zeit immer weiter und bis an sein Lebensende. Er sagt sich auch nicht: „Hey! Wie lange willst du noch so leben? Das hat doch keinen Sinn, Kumpel. Hör auf mit dem Quatsch, entspann dich, wirf die Stacheln ab und schütze dich nicht weiter vor Dingen, die es nicht gibt in deiner Welt!“

Etwas anderes beschäftigt mich in diesem Zusammenhang: wenn ich zwei von diesen Kakteen hätte und sie würden neben einander stehen, würden sie wahrscheinlich genau dasselbe tun. Beide Kakteen würden den ganzen Tag genau dasselbe tun. Mit großer Selbstverständlichkeit. Den Job eines Kaktus erfüllen. Wenn jemand fragen würde: „Was tun sie?“ Dann könnte ich antworten: „Es sind Kakteen. Sie wachsen.“

Bei uns Menschen ist das ganz unüblich. Es gibt viele unterschiedliche Dinge zu tun. Ich will gar nicht anfangen, das alles aufzuzählen. Und bei jeder Sache, die man tut, gibt es auch noch die Möglichkeit, dass man sie nicht tut. Ich meine, man kann Fahrradfahren und man kann NICHT Fahrradfahren. Verstehen Sie? Ein Kaktus kann nicht NICHT wachsen, oder? Er wächst.

Und was ist es, das der Mensch eigentlich tut? Was ist es? Was ist mein Job als Mensch? Das, was ich ohne Bewertungen, Annahmen und Beurteilungen eigentlich tue? Was ist das Eigentliche? Neben Fahrradfahren oder NICHT Fahrradfahren?

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Niklis, Martina-Riccarda

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