Inspiriert: Wie ich von der Autobahn in den Dschungel kam

Niklis, Martina-Riccarda
6 min readJul 22, 2020

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Um einen Artikel zu schreiben, muss man kreativ, fokussiert und klar sein. Dieser letzte Satz ist eine Geschichte. Um einen Artikel zu schreiben, muss man einen Artikel schreiben. Dieser letzte Satz ist wahr und er macht mich wütend. Ich fühle Wut, denn etwas in mir sagt: „Nicht jeder kann einen Artikel schreiben! Zumindest braucht man Fokus.“ Der fokussierte Teil in mir antwortet: „Das ist nur eine Geschichte. Um einen Artikel zu schreiben, muss man einen Artikel schreiben. So wie man ein Brot backen muss, um ein Brot zu backen. So wie man ein Auto reparieren muss, um ein Auto zu reparieren. So wie man von einem Hochhaus springen muss, um von einem Hochhaus zu springen….“

(Der Teil von mir, der gerade sprach, mag dramatische Aussagen.)

In diesem Artikel geht es um Inspiration. Ich schreibe nicht darüber, was Inspiration ist. Das könnt ihr ja nachlesen, wenn ihr es nicht wisst. Ich schreibe diesen Artikel nicht, um euch zu inspirieren. Es spielt keine Rolle, ob dieser Artikel euch inspiriert. Das interessiert mich nicht. Inspiration würde nicht funktionieren, wenn sie einen Zweck hätte. Wenn ich sage: „Ich möchte dich inspirieren, damit du eine Möglichkeit siehst, dieses und jenes zu ändern.“, dann kann ich dich nicht mehr inspirieren. Dann will ich, dass du etwas änderst, dass du neue Wege siehst, dass du weiterkommst. Das ist etwas anderes. Etwas anderes als die Inspiration, die ich meine. Wenn ich inspiriert bin, brenne ich. Ich meine es so, wie ich es sage. Inspiration ist ein Brand in mir, es beginnt zu glühen in Höhe meines Solarplexus und die Flammen züngeln meine Kehle hinauf, durch meinen Hals in mein Gesicht, in meine Augen, meine Ohren und meinen Mund. Meine Inspiration ist kein kontrollierter Prozess, er überspringt ganz leicht Grenzen in mir, ergreift alles, was er erwischen kann, brennt hell, brennt laut, brennt überall. Inspiration fragt nicht: WANN, WARUM, WER, WO. Inspiration ist JETZT. JETZT! JETZT!! Inspiration ist ein Backdraft. Jetzt, wenn du diese Türe öffnest, stehst du sofort in dieser Flammenwalze und die einzige letzte Chance ist, dich sofort auf den Boden zu werfen und zu warten, bis die Welle von Flammen und Hitze über dich hinweg gerollt ist.

Wenn ich inspiriert bin, wenn ich brenne, hast du keine Chance. Ich stecke dich an. Unabsichtlich. Ohne Grund. Einfach weil du da bist, jetzt.

Ich bin jetzt 53. Eine deutsche Dreiundfünfzigjährige. Heute Morgen bin ich aufgewacht und wusste, dass Inspiration eines meiner hellen Prinzipien ist. Neben Klarheit, Fokus und Kreativität. Ich bin Inspiration. Im Rahmen des Possibility Management gibt es die Möglichkeit, helle Prinzipien Gefühlen zuzuordnen. Zum Beispiel ist Klarheit ein Wutprinzip. Als ich meine Wut kennen gelernt habe, war ich 52. Es war November und ich nahm an einem Workshop teil, der den Titel trug: GET BACK YOUR ENERGY.

Ein paar Wochen vor diesem Workshop öffnete sich eine Türe zu einer Erinnerung, die 50 Jahre lang verschlossen gewesen war. Man könnte auch sagen, mir fiel etwas ein, was ich 50 Jahre lang vergessen hatte. Nun, ich hatte es nicht eigentlich vergessen, denn die ganzen 50 Jahre über begleitete mich dieser Schatten. Ich sah den Schatten, ich sah nicht, wer den Schatten wirft. Im Spätsommer 2018 sah ich plötzlich, wer den Schatten wirft: Im Alter von 2 Jahren wurde ich von meinem Onkel im Haus seiner Eltern in der 1. Etage sexuell missbraucht, während der Rest der Familie — Eltern, Oma, Opa und andere Onkels — unten im Wohnzimmer Karten spielte. Es war Sonntag und die Sonne schien. Als diese Erinnerung zurückkam, war ich noch verheiratet und am Abend im Spätsommer 2018 erzählte ich meinem Mann Axel, was mir eingefallen war. Ich erzählte es so, wie man erzählt, dass der Nachbarshund wieder in den Garten gekackt hat. So wie man erzählt, dass die Butter im Supermarkt heute ausverkauft war. Danach dachte ich: Über die Jahre habe ich es verarbeitet und jetzt bin ich stark genug, um sachlich und vernünftig damit umzugehen.

In dem Workshop GET BACK YOUR ENERGY (mit Clinton Callahan und Anne-Chloé Destremau) versuchte ich auch, diese Erinnerung sachlich und vernünftig zu erzählen. Es war am Abend des ersten Tages. Etwas in mir brach, wie eine Eisschicht die zu dünn ist, um darüber zu gehen. Ein großer Schwall Traurigkeit überflutete mich. Ich konnte niemandem mehr in die Augen sehen, während ich sprach. Da sagte Clinton, ich solle ihm in die Augen sehen. Ich solle jedem der Anwesenden in die Augen sehen. Ich merkte, dass ich mein ganzes Leben lang noch nie jemandem wirklich in die Augen gesehen hatte.

Am zweiten Tag dieses Workshops bot Clinton mir an, eine Stehende-Wut-Arbeit zu machen. Er sagte, es sei eine Möglichkeit, meine Würde zurück zu bekommen. Ich weiß nicht, was Würde ist. Aber ich machte diesen Prozess. Bei einem Stehende-Wut-Prozess betritt man diesen Raum der eigenen Wut. Eine Wut, die bis zu 100 Prozent gehen kann. Eine Wut, die so viel Kraft hat, dass mehrere Menschen einen halten müssen. Eine Wut, die schreit, brüllt, faucht und Wahrheit spricht. Klarheit. Klarheit, über die es nichts zu sagen gibt. Über die man nicht diskutieren muss. Die man nicht verbessern kann. Jeder Mensch auf der ganzen Welt — jeder — erkennt das Gefühl der Wut in dieser Intensität. Meine Wut war in diesen wenigen Minuten wie ein blauer Diamant. Klar, hart, schön. Ich war die Wut. Die ganze Zeit, während ich in diesem Raum meiner eigenen Wut war, wusste ich, dass ich ihn wieder verlassen werde. Ich wusste, dass ich in Zukunft diesen Raum bewusst würde betreten können. Ich wusste auch schon, während ich in diesem Raum war, dass ich selbst größer als meine Wut bin. Denn ich war am Anschlag. 100 Prozent.

Danach kannte ich meine eigene Wut. Ich erkannte sie, wenn sie auftauchte und ich erkannte auch viel besser, wenn sie bei anderen auftauchte. Nachdem ich diese Erfahrung gemacht hatte, blieb ich nicht länger auf der linearen Autobahn einer deutschen Zweiundfünfzigjährigen. Das war kein Entschluss. Es war! Nach diesem Prozess war ich im Dschungel. Im Dschungel gibt es keine Autobahn.

Seit ich im Dschungel lebe, haben sich die Wege meines Mannes von meinen getrennt. Seit ich im Dschungel lebe, war ich mehrere Wochen in Südamerika, alleine und ohne Plan. Seit ich im Dschungel lebe, habe ich ein Schwert gebaut, um der Wut ein materielles Zeichen zu geben. Das Schwert Os. Seit ich im Dschungel lebe, habe ich eine Internetseite gemacht, um über den Weg der Kunst Brücken zu bauen. (www.oswords.de)

Seit ich im Dschungel lebe, läuft ein kleines wildes Tier neben mir her. Heute Morgen habe ich es zum ersten Mal richtig gesehen und wusste, dass es mich schon länger begleitet. Es ist nicht angekettet, es kommt freiwillig mit mir mit. Es ist ein wunderschönes Tierchen, dessen Fell in verschiedenen Farben schimmert. Es kann laufen wie der Wind, meterhoch springen und es kann sogar fliegen! Es fällt manchmal andere Menschen an, springt an ihnen hoch, wirft sie zu Boden und schleckt ihnen das Gesicht ab. Das mag nicht jeder. Manche Menschen sagen dann: „Hör auf. Geh weg! Aus!“ Aber ich kann das kleine wilde Tier nicht kontrollieren. Manchmal versuche ich, dem kleinen wilden Tier einen Befehl zu geben: „Spring! Schnapp ihn dir!“ Aber das klappt auch nicht wirklich. Wenn es gerade in der Sonne liegt und träumt, mag es einfach nichts anderes tun.

Dieses kleine wilde Tier ist meine Inspiration. Meine Vermutung ist, dass sie sich mir angeschlossen hat, als ich im Raum der Wut war. Das ist eine Möglichkeit. Dann wäre Inspiration ein Wutprinzip. Ob das korrekt ist, weiß ich nicht. Ich kann es gerade nicht sehen, denn es sind so viele grüne, große Blätter und Lianen vor meinen Augen. Im Dschungel sieht man nämlich nie weit. Eigentlich sieht man immer nur den nächsten Schritt. Und noch nicht einmal von dem kann man sagen, wo er hin führt.

Es kann aber auch sein, dass dieses Tier schon ganz lange bei mir ist. Vielleicht war es schon da, als ich im Bauch meiner Mutter heranwuchs. Vielleicht ist dieses kleine wilde Tier so etwas wie ein Grund. Ein ACH SO!! Das wäre eine andere Möglichkeit. Dann könnte ich sagen. Ich bin hier. Ich bin Inspiration! Ich bin gekommen, um euch am frühen Morgen schon in Brand zu setzen. Ich bin hier, um zu brennen, zu leuchten, euch richtig heiß zu machen! Euch richtig einzuheizen.

Das macht mir Angst. Ich dachte bis jetzt, dass das kleine gefährliche Tier sich immer etwas hinter mir versteckt. Da habe ich mich aber ordentlich geirrt. Es ist genau anders herum. Ich laufe ganz leicht schräg hinter ihm. Verstecke mich leicht hinter ihm.

Im Dschungel kann man allerdings nie so genau sagen, wo vorne und hinten ist…..

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Niklis, Martina-Riccarda

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