Nur der große Wagen

Niklis, Martina-Riccarda
5 min readOct 31, 2021

Seit zwei Monaten lebe ich auf einer kleinen Insel in der Nordsee. Es ist nicht so einfach gewesen, hier eine Wohnung zu finden, aber ich hatte großes Glück: das Haus in dem ich lebe, ist umgeben von sehr großen Weiden und Freiflächen, auf denen Kühe und Pferde grasen. In alle Richtungen sind es mehrere hundert Meter bis zum nächsten Haus und ich habe aus allen Fenstern wunderbare weite Ausblicke. Ich kann Hasen, Fasane, Enten, Reiher, sehr große Tauben, Vögel deren Namen ich nicht kenne und eine Bisamratte beobachten. Es gibt keine Laternen in der Nähe, also ist es nachts sehr dunkel und sehr still. Sehr still.

In meiner Wohnung sind 7 Fenster. Dadurch kann ich in alle Himmelsrichtungen sehen. Zum Beispiel sehe ich durch das Fenster in meinem Gästezimmer den Sonnenaufgang. Es sind zum Teil ganz wunderschöne Momente, wo der ganze Himmel sich verfärbt. Durch mein Wohnzimmerfenster sehe ich abends die Sonne wieder untergehen. Ich habe kein einziges Fenster, durch das ich beides sehen kann: Sonnenaufgang und Untergang.

Wenn ich im Bett liege und aus dem Fenster schaue, sehe ich bei klarem Himmel den Sternenhimmel. Pellworm wurde vor kurzem zur Sterneninsel gekürt, weil es so ein dunkler Ort ist. Es wurde viel daran gearbeitet, diese Auszeichnung zu bekommen. Zum Beispiel wurden spezielle Straßenbeleuchtungen angebracht, die Leuchtmittel sind sehr dunkel, damit so wenig wie möglich Lichtverschmutzung entsteht. Dadurch kann man wirklich gigantische Sternenhimmel beobachten. Im September war das Sternenbild „der große Wagen“ genau in meinem Schlafzimmerfenster zu sehen. Das Fenster war genau so groß, dass es den Ausschnitt vom Himmel zeigte, in dem dieses Sternenbild sich gerade aufhielt. Ich bin in dieser Zeit ganz oft eingeschlafen, während meine Augen dieses wunderschöne Bild betrachteten. Jetzt ist der große Wagen weitergezogen. Ich sehe ihn nicht mehr. Mein Fenster ist immer noch an derselben Stelle, aber der Himmel hat sich bewegt.

Mir fallen auf Anhieb viele Dinge ein, über die ich mir Sorgen machen könnte. Meine Kinder, meine Gesundheit, meine Finanzen, das Wetter, die Tatsache, dass ich alleine lebe, dass mir das Clopapier ausgehen könnte, ob ich Freunde hier finde, ob noch genug Luft in meinem Fahrradreifen ist und und und…

Und alle diese Sorgen sind nur in meinem Kopf. Sie könnten wahr werden, es könnte passieren, aber nichts davon ist jetzt passiert. Meinen Kindern geht es gut, ich bin gesund, ich habe genug Geld, um alles bezahlen zu können, ich habe gute Regenklamotten, ich habe gewählt, alleine zu leben, das Clopapier ist mir noch nie ausgegangen und wenn ich morgens zu meinem Fahrrad gehe und der Reifen ist platt, kann ich laufen. Alle diese Szenarien, was passieren könnte, sind nicht in meinem Jetzt. Es sind nur Geschichten. Geschichten sind niemals wahr.

Um zu der Sache mit den Fenstern zurück zu kommen, möchte ich sagen: wenn der Ausschnitt in meinem Fenster das Jetzt ist, dass was ich im Moment sehen kann, was in meinem Leben gerade ist, dann ist nichts von diesen Sorgen gerade im Fenster. Nichts davon ist gerade da. Vielleicht ist es davor oder danach — zeitlich gesehen, meine ich. Vielleicht passieren manche von den Dingen einmal und wahrscheinlich sind viele davon auch schon mal passiert, in der Vergangenheit. Aber im Jetzt und Hier, in meinem Fensterausschnitt ist nichts davon zu sehen. Nur der große Wagen.

Aber ich bin ja nicht blöd! Ich mache mir ja nicht einfach so ohne Grund Sorgen. Das hat ja einen Sinn. Alles was ich mache, hat doch irgendeinen Sinn. Sonst könnte ich es doch lassen! Welchen Vorteil habe ich davon, mir Sorgen zu machen?

Ich kann zum Beispiel anderen von meinen Sorgen erzählen, dann bekomme ich vielleicht Mitgefühl, jemand hört mir zu, versteht mich und gibt mir Recht. Vielleicht kümmert sich sogar jemand um mich, ruft mal wieder an oder schreibt. Klarer Vorteil.

Ich habe auch gemerkt, dass Sorgen mich statisch machen. Sie frieren mich sozusagen ein. Zum Beispiel haben mich die Sorgen, dass etwas mit meinen Töchtern in Süddeutschland passieren könnte, fast davon abgehalten, 1000 km in Richtung Norden auf eine Insel zu gehen. Denn dann wäre ich im Notfall weit weg und könnte nicht schnell genug zu ihnen kommen. Das ist ein klarer Vorteil, den die Sorgen mir bringen: mich nicht bewegen zu müssen, im Gewohnten zu bleiben, nichts zu riskieren. Meine deutsche Sicherheits-Box wird verrückt, wenn ich solche Dinge mache, wie auf eine Insel in der Nordsee zu ziehen.

Manche Sorgen lenken mich einfach nur von anderen Dingen ab. Ich meine, wenn ich mal davon ausgehe, dass es einen Grund hat, weshalb ich hier auf Erden bin, dass ich eine Aufgabe habe, dass es etwas gibt, was nur ich anderen geben kann und etwas, worauf die Welt dringend wartet, dann können meine Sorgen ein ganz hervorragender Grund sein, genau das nicht zu tun. Also nicht das zu tun, weshalb ich gekommen bin. Weil ich mir ja so viele Sorgen mache darüber, was alles schief gehen könnte. Angenommen, ich bin hier, weil ich eine Weckruferin bin. Ein ganz einzigartiges Wesen, dass alle Voraussetzungen erhalten hat, um Menschen aus dem Schlaf aufzuwecken, um Klarheit in Nebel zu bringen, um mit dem Finger auf das zu zeigen, was nicht in Ordnung ist, um mit Worten klare Bilder zu zeichnen, die so deutlich sind, dass andere sie verstehen, dass andere ermutigt werden, endlich aufstehen, den Mund aufmachen, sagen was wahr ist und losgehen. Losgehen, Türen öffnen, hindurch gehen und sie mit einem lauten Knall hinter sich zu knallen.

Dann könnte eine einzige kleine fucking Sorge mich sehr leicht abhalten, das zu tun. Denn was dabei alles passieren kann, was dabei alles schief gehen kann. Und die Sorge ist dann mein Alibi. Ich muss noch nicht mal sagen, dass ich mich nicht traue. Ich kann sagen, ich mache es nicht, weil ich mir Sorgen und dieses und jenes mache und bin aus dem Schneider.

Wie wäre es, wenn ich zur Abwechslung mal nicht auf meine Sorgen schauen würde, sondern auf das, was ich dadurch nicht habe, mache, erlebe, liebe, fühle, erschaffe, beende?

Ich experimentiere gerade mit dem Bild vom Fenster, wenn ich Sorgen habe. Nachts im Bett geht das besonders gut. Wenn eine Sorge auftaucht, muss ich einfach nur schauen, ob sie gerade real in meinem Jetzt ist. Ob ich sie wirklich in meinem Fenster sehe. Wenn nicht, beruhigt sich etwas in mir ganz schnell und leicht. Dann kann ich sagen: diese Sorge ist nicht real. Sie ist entweder in der Zukunft oder aus der Vergangenheit. In beiden Fällen ist sie dann irrelevant. Und ich kann sie abhaken. Das funktioniert sehr gut. Wirklich in meinem Fenster ist nur sehr wenig, worüber ich mir Sorgen machen möchte. Wenn ich ganz genau schaue, eigentlich gar nicht viel. Einzig und allein vielleicht sogar nur der große Wagen.

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Niklis, Martina-Riccarda

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