Über Würde

Niklis, Martina-Riccarda
5 min readMay 3, 2021

Es gibt Wörter, die in meinem Inneren Bilder entstehen lassen. Zum Beispiel das Wort „Erdbeere“. Ich weiß, was das ist, ich erinnere mich an den süß-säuerlichen Geschmack, die Saftigkeit und ich denke daran, dass sich die kleinen Kerne, die außen auf einer Erdbeere sitzen, in immer die gleiche Kante an meinem linken, oberen Eckzahn setzen und ich sie nur mit Hilfe eines Fingernagels wieder heraus bekomme.

Oder das Wort „Anstrengung“. Es entstehen Bilder in meinem Kopf. Das Bild eines Menschen, der mit dem Fahrrad einen sehr steilen Berg rauf fährt. Das Bild eines 6-Jährigen, der in der Schulbank sitzt und mit einem Bleistift versucht, die Form der Zahl „6“ nachzuzeichnen.

Diese Bilder entstehen in meinem Kopf ungefragt und ohne Aufforderung. Es passiert einfach und ich denke nicht darüber nach. Mein Eindruck ist, dass die Bilder eine Mischung aus Erlebnissen, Erinnerungen, Büchern, Filmen, Gehörtem und Erzählungen anderer Menschen sein können. Irgendetwas ist damit verknüpft.

Es gibt diese Geschichte, dass die Ureinwohner einer Insel ein Kriegsschiff auf dem Meer nicht gesehen haben, weil sie nicht wussten, was ein Kriegsschiff ist. Es gab dazu keine Verknüpfung in ihrer Welt und deshalb haben ihre Augen das Schiff nicht wahrgenommen.

Wörter die ich höre und die in mir nicht verknüpft sind, nehme ich als hohl und trocken wahr. Leer. Es sind Hüllen, leere Gefäße. Es sind tote Konstrukte.

Das Wort „Würde“ war lange Zeit so ein Wort für mich. Ich habe das Wort wahrscheinlich ein paar Mal in meinem Leben gehört. Sätze wie „Er war ein sehr würdevoller Mann.“, stehen in Büchern, die ich in der Schule gelesen habe. Das Wort war immer leer und hohl für mich. Im Internet steht, dass Würde etwas mit Achtung und Selbstbestimmung zu tun hat. Mit Respekt. Mit Erhabenheit und Ehre. Für mich war das Wort immer ein trockener Haufen Buchstaben.

Vor gut 2 Jahren war ich in einem Workshop mit Clinton Callahan und Anne-Chloé Destremau. Es ging um Wut. Clinton bot mir an, eine Stehende-Wut-Arbeit zu machen. Ein paar Monate vor diesem Workshop war eine 50 Jahre alte Erinnerung an einen sexuellen Missbrauch im Alter von 2 Jahren durch meinen Onkel scheinbar unerwartet wieder aufgetaucht. Ich hatte mein Leben lang gewusst, dass ich sexuell missbraucht worden war und die Erinnerung daran war nicht mehr da gewesen.

Clinton sagte vor der Wutarbeit den Satz zu mir: „Es ist eine Möglichkeit, deine Würde zurück zu holen.“ Das war das erste Mal, dass ich das Wort Würde bewusst hörte. Ich hörte es, weil ich wusste, dass ich mit dieser Stehende-Wut-Arbeit durch eine der wichtigsten Türen in meinem Leben gehen würde. Und ich verstand diesen Teil der Hinweise von Clinton nicht. Deshalb fiel es mir auf. Das Wort Würde. Es ist, wie wenn du kurz vor einem Fallschirm-Sprung bist und der Typ im Flugzeug erklärt dir, was du tun musst und er sagt ganz wichtige Dinge zu dir und in dem Moment, als er das Superwichtigste sagt, hast du einen lauten Brumm-Ton in deinen Ohren und du kannst es nicht verstehen. Die ganze Zeit während du springst und durch die Luft segelst, denkst du darüber nach, was der Typ zu dir gesagt hat.

So war es, als Clinton das über die Würde sagte. Ich verstand es nicht. Ich wusste nicht, was Würde ist. Mein Kopf war leer an der Stelle. Und ich wusste, dass es nichts bringt ihn zu fragen, was Würde ist. Seine Antwort wäre chinesisch. Ich kann kein chinesisch. Ich fragte nicht. Ich sprang trotzdem.

Danach ist mir das Wort immer wieder aufgefallen. Es gab jetzt diese Verknüpfung in meinem Kopf. Die Verknüpfung an den Workshop und die Standing-Rage-Erfahrung. Und daran dachte ich, wenn ich das Wort Würde hörte. Ich wusste immer noch nicht, was Würde ist.

Vor einigen Wochen habe ich einen weiteren Emotionalen Heilungsprozess gemacht, in dem ich das Thema meines sexuellen Missbrauchs wieder auf den Tisch legte. Ich hatte in den Monaten und Jahren vor diesem Prozess viel an dem Thema gearbeitet. Es strahlt wie die unsichtbaren Sporen eines riesigen Pilzes in jeden Bereich hinein. Mein ganzes Leben scheint davon durchdrungen zu sein. Und das obwohl die Erinnerung an den Missbrauch 50 Jahre lang weg war. Zum Glück! Zum Glück hatte ich diese unsagbaren Erlebnisse jedes Mal sofort danach für immer vergessen! Vergessen was geschehen ist. Und ich schreibe bewusst „für immer vergessen“. Ich habe die Erinnerung als kleines Kind für immer vergessen. In einer Welt, in der es möglich ist, so etwas wie einen sexuellen Missbrauch zu erleben, gab es für mich nur die Möglichkeit, diese Erlebnisse sofort und für immer zu vergessen. Ich habe sie tief vergraben. Es ging um Leben und Tod. Es ging um mein Überleben.

Ein paar Tage nach diesem Prozess ist mir eine Veränderung aufgefallen. Wie ein kleiner leiser Ton im Hintergrund, der schon lange da war und erst jetzt sickerte er in mein Bewusstsein und in meine Aufmerksamkeit. Und wurde immer lauter. Die leere Hülle des Wortes „Würde“ war nicht mehr leer. Sie hatte sich mit etwas gefüllt. Mit etwas, dass organisch, lebendig und warm war. Es ist nicht so einfach, es zu erklären, weil es eher eine Wahrnehmung ist. Nichts im Kopf. Nichts Mentales. Es ist etwas Energetisches.

Es sieht so aus: Ich kann alleine stehen! Ich brauche niemanden der mir erklärt, wie es geht. Der mir sagt, was an dieser Stelle hier gedacht und getan werden muss. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen! Ich trage auch die Konsequenzen für meine Entscheidungen. Ich übernehme die Verantwortung. Ich fühle! Ich fühle Wut, Freude. Ich fühle Angst und Traurigkeit. Ich sage, was ich fühle und ich zeige, was ich fühle. Ich verstecke mich nicht hinter anderen. Wenn ich es anders sehe, dann ist es, weil ich es anders sehe! Es ist meine Meinung und ich sage meine Meinung. Was ich zu sagen habe, ist genauso wichtig wie das, was jemand anderes zu sagen hat. Ich muss nicht antworten, wenn ich es nicht möchte, ich kann jederzeit sprechen, ich unterbreche andere. Ich höre mir keine manipulativen Bullshit-Geschichten an, denn es ist mein Leben, meine Zeit. Es ist meine Zeit, die hier vergeht und ich muss nicht bleiben, wenn ich nicht bleiben möchte, nur damit ich nicht unfreundlich erscheine! Und!! Und: Niemand fasst mich einfach unerlaubt an. Niemand fasst mich an, ohne dass ich es möchte! Und in mir ist viel Wut zu diesem Punkt. Und ein lauter Schrei. Und ein scharfes Schwert!! Ich halte mich nicht zurück. Ich bin stark. Ich bin laut. Ich bin unbequem und ich bin ein Problem. Ich bin ein Problem!! Ich schütze dich nicht! Ich entschuldige dich nicht. Ich bin eine Kriegerin und mein Schwert liegt in deinem Nacken!

Das ist Würde. Das ist meine Würde. So ist sie zurückgekommen zu mir. So laut! So unbequem! So rauh! So gewaltig. So ist meine Würde.

Sie ist wieder da. „Hallo Würde! Hallo, meine Würde!“ „Hallo Martina!“

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Niklis, Martina-Riccarda

Warrioress with those bright principles: Clearity, creation, integrity, incouragement and oneness